Europa à la Carte
Der römische Straßenhändler drückt mir für einen Euro ein ganzes Bündel Postkarten in die Hand. Ich fange an, mit dem Lackstift darüberzumalen. So entsteht mein römisches Drunter und Drüber: Vergangenes unter dem Heutigen, das photographierte Kolosseum unter den gezeichneten Tauben.
"Unterwegs" in Europa bin ich zugleich "unterwegs" in der Zeit, in der Geschichte. Drunter und Drüber: da steht dann schon manchmal etwas auf dem Kopf. "Unterwegs" in Südfrankreich überzeichne ich Lavendelfelder und Kathedralen, in Berlin die Schloßbrücke und den Palast der Republik. "Unterwegs" zwischen Narbonne und London, zwischen Hastings und Compiegne entsteht so allmählich mein "Europa à la Carte".
Übermalungen auf Postkarten und Photos. Und manchmal auch auf Museumsprospekten. Der Grundriß des Museums, aufgedruckter Begleittext oder auch Bilder aus den laufenden Ausstellungen geben einen eigenwilligen Widerpart. Manchmal muß ich schon heftig dagegen anzeichnen, um das Unterdruckte zu integrieren.
Überraschende Durchblicke ergeben sich, wenn nach einer Schwarzabdeckung mit dem Tuschepinsel die ursprüngliche Farbigkeit plötzlich in ganz neuen Formen aufleuchtet. - Eigenständiges entsteht: "Museum unterm Strich". Die wunderschönen Körper, die Schadow meißelte, werden mir in der Nationalgalerie Berlin zu Aktmodellen, die einige Minuten stillhalten - ich vergesse, dass sie eigentlich immer dastehen. Ich will den Augenblick des ersten Staunens einfangen in einem klaren, vibrierenden Strich. Genußvoll und konzentriert sind Auge und Hand "unterwegs". Christina Rieck-Sonntag